4
Von nun an erholte sie sich schnell. Franck sah sie nie, aber sie wußte, wann er da war: Türenklappern, Stereoanlage, Fernseher, lebhafte Telefongespräche, ordinäres Lachen, derbe Flüche, nichts davon war natürlich, das spürte sie. Er war unruhig und erfüllte die Wohnung mit seinem Leben wie ein Hund, der überall hinpinkelt, um sein Revier abzustecken. Manchmal hatte sie große Lust, in ihr Zimmer zurückzukehren, um ihre Unabhängigkeit wiederzuerlangen und niemandem etwas schuldig zu sein. Dann wieder nicht. Dann wieder schüttelte es sie schon beim Gedanken daran, erneut auf dem Boden zu schlafen, die sieben Stockwerke hochsteigen zu müssen und sich am Treppengeländer festzuhalten, um nicht zu fallen.
Es war vertrackt.
Sie wußte nicht mehr, wo sie hingehörte, und außerdem mochte sie Philibert. Warum sollte sie sich ständig geißeln und sich mit zusammengebissenen Zähnen an die Brust schlagen? Ihrer Unabhängigkeit zuliebe? Was für eine Errungenschaft. Sie hatte jahrelang nur dieses Wort im Mund geführt, und was hatte es ihr gebracht? Wo war sie gelandet? In diesem Loch, wo sie die Nachmittage damit verbrachte, eine Zigarette nach der anderen zu rauchen und mit ihrem Schicksal zu hadern? Wie erbärmlich. Es war erbärmlich. Bald war sie siebenundzwanzig und hatte im Leben noch nichts erreicht. Keine Freunde, keine Erinnerungen und auch keine Veranlassung, sich selbst nur die geringste Anerkennung zu zollen. Was war passiert? Warum hatte sie es nicht geschafft, mit ihren Händen zwei oder drei etwas wertvollere Dinge zu umschließen und sie festzuhalten? Warum?
Sie war nachdenklich. Sie war erholt. Und wenn der drollige Kauz ihr etwas vorlas, wenn er leise die Tür schloß und mit den Augen rollte, weil der andere Gangster seine »Zulu-Musik« hörte, lächelte sie ihm zu und entkam einem Moment dem Auge des Orkans.
Sie hatte wieder angefangen zu zeichnen.
Einfach so.
Für nichts. Für sich. Zu ihrem Vergnügen.
Sie hatte ein neues Skizzenheft genommen, ihr letztes, und hatte sich damit angefreundet, indem sie alles in ihrer Umgebung darin festhielt: den Kamin, die Muster der Tapete, den Fensterriegel, das kindische Lachen von Sammy und Scooby Doo, die Bilderrahmen, die Gemälde, die Kamee der Dame und den nüchternen Gehrock des Herrn. Ein Stilleben von ihren Kleidern, bei dem die Gürtelschnalle auf den Boden hing, die Wolken, den Kondensstreifen eines Flugzeugs, die Baumkronen hinter dem schmiedeeisernen Geländer des Balkons und ein Porträt von sich auf dem Bett.
Wegen der schwarzen Flecken auf dem Spiegel und ihrer kurzen Haare sah sie aus wie ein kleiner Junge mit Windpocken.
Sie zeichnete wieder, wo sie ging und stand. Blätterte die Seiten um, ohne darüber nachzudenken, und hielt nur kurz inne, um etwas chinesische Tinte in ein Schälchen zu gießen und ihren Füllfederhalter aufzufüllen. Sie hatte sich seit Jahren nicht so ruhig, so lebendig, so wunderbar lebendig gefühlt.
Was sie jedoch vor allem mochte, war Philiberts Mimik. Er war so von seinen Geschichten gefangen, sein Gesicht wurde plötzlich ganz ausdrucksstark, ganz erregt oder ganz bedrückt (ach! die arme Marie-Antoinette …), so daß sie gebeten hatte, ihn zeichnen zu dürfen.
Natürlich hatte er der Form halber etwas gestammelt, dann aber ganz schnell das Kratzen der Feder vergessen, die über das Papier huschte.
Manchmal hieß es:
Aber Madame d’Étampes war keine Liebhaberin von der Art der Madame de Châteaubriant, Bagatellen genügten ihr nicht. Sie träumte vor allem von Gunstbezeugungen für sich und ihre Familie. Nun hatte sie allerdings dreißig Brüder und Schwestern … Mutig ging sie an die Arbeit.
Geschickt verstand sie es, sich ruhige Momente zunutze zu machen, die ihr die Atempausen zwischen zwei Umarmungen gewährten, um dem König, befriedigt und atemlos, die Ernennungen und Beförderungen zu entlocken, die sie wünschte.
Allmählich wurden alle Pisseleus mit wichtigen, gemeinhin kirchlichen Ämtern ausgestattet, weil die Mätresse des Königs »eine Religiöse« war …
Antoine Seguin, ihr Onkel mütterlicherseits, wurde Abt von Fleury-sur-Loire, Bischof von Orléans, Kardinal und schließlich Erzbischof von Toulouse. Charles de Pisseleu, ihr zweiter Bruder, erhielt die Abtei von Bourgueil und das Bistum Condom …
Er blickte auf:
»Condom … Sie müssen zugeben, das klingt spaßig.«
Und Camille beeilte sich, dieses Lächeln festzuhalten, die belustigte Verzückung eines Jungen, der die Geschichte Frankreichs zerpflückte wie andere ein drittklassiges Pornoheft.
Oder aber:
… da die Gefängnisse nicht mehr ausreichten, machte Carrier, allmächtiger Autokrat, von Kollaborateuren umgeben, die ihm in nichts nachstanden, neue Kerker auf und beschlagnahmte Schiffe im Hafen. Alsbald schon wirkte sich der Typhus verheerend auf die vielen tausend Gefangenen aus, die unter erbärmlichen Bedingungen hausten. Da die Guillotine nicht schnell genug war, ordnete der Prokonsul an, Tausende von ihnen zu erschießen, und stellte den Erschießungskommandos ein »Heer von Totengräbern« an die Seite. Als weiterhin Gefangene in die Stadt strömten, erfand er die Methode des Ertränkens.
Brigadegeneral Westermann seinerseits schreibt: »Es gibt keine Vendée mehr, republikanische Bürger. Sie ist tot, unter unseren freien Säbeln mit all ihren Frauen und Kindern gestorben. Ich habe sie in den Sümpfen und den Wäldern von Savenay begraben. Ihren Befehlen folgend habe ich die Kinder unter den Pferdehufen zertrampeln und die Frauen massakrieren lassen, sie werden keine weiteren Schurken mehr gebären. Mir ist kein Gefangener entwischt.«
Und es gab nichts anderes zu zeichnen als einen Schatten auf seinem konzentrierten Gesicht.
»Zeichnen Sie oder lauschen Sie?«
»Ich lausche Ihnen beim Zeichnen.«
»Dieser Westermann hier, dieses Scheusal, der seinem neuen süßen Vaterland mit so viel Eifer gedient hat, tja, stellen Sie sich vor, er wurde einige Monate später mit Danton gefangengenommen und mit ihm enthauptet.«
»Warum?«
»Angeklagt der Feigheit. Er war zu lau …«
Dann wiederum bat er um Erlaubnis, sich auf den Lehnstuhl am Fußende setzen zu dürfen, und beide lasen still für sich.
»Philibert?«
»Mmm.«
»Die Postkarten?«
»Ja.«
»Geht das noch lange?«
»Pardon?«
»Warum machen Sie hieraus nicht Ihren Beruf? Warum versuchen Sie nicht, Historiker oder Lehrer zu werden? Es stünde Ihnen dann zu, sich während der Arbeitszeit in all diese Bücher zu versenken, Sie würden sogar dafür bezahlt!«
Er legte sein Buch auf die abgewetzte Cordhose über seinen knöchernen Knien und setzte die Brille ab, um sich die Augen zu reiben:
»Ich habe es versucht. Ich habe ein Staatsexamen in Geschichte und habe dreimal an der Aufnahmeprüfung für die École des Chartes teilgenommen, aber ich bin jedesmal durchgefallen.«
»Waren Sie nicht gut genug?«
»Doch, doch! Das heißt«, er errötete, »das heißt, ich glaube schon. Ich glaube es in aller Bescheidenheit, aber ich … Ich habe noch nie ein Examen bestanden. Ich habe zuviel Angst. Ich leide jedesmal an Schlafmangel, verliere das Augenlicht, die Haare, sogar die Zähne! Und mein ganzes Wissen. Ich lese die Aufgaben, ich weiß die Antworten, aber ich bin außerstande, eine Zeile zu schreiben. Ich sitze wie versteinert vor meinem Blatt.«
»Aber Sie haben doch Ihr Abitur? Und Ihr Staatsexamen?«
»Ja, aber zu welchem Preis. Und niemals beim ersten Anlauf. Und dabei war es ziemlich leicht. Mein Staatsexamen habe ich erhalten, ohne je einen Fuß in die Sorbonne gesetzt zu haben, es sei denn, um die Vorlesungen der großen Professoren zu hören, die ich bewundert habe und die mit meinem Studienplan nichts zu tun hatten.«
»Wie alt sind Sie?«
»Sechsunddreißig.«
»Aber mit einem Staatsexamen hätten Sie damals doch unterrichten können, oder?«
»Können Sie sich vorstellen, wie ich vor dreißig Kindern stehe?«
»Ja.«
»Nein. Allein die Vorstellung, mich an eine Zuhörerschaft zu wenden, und sei sie noch so klein, läßt mich in kalten Schweiß ausbrechen. Ich … Ich habe Probleme mit der … der Gemeinschaft, glaube ich.«
»Aber in der Schule? Als Sie klein waren?«
»Ich bin erst ab der fünften Klasse zur Schule gegangen. Noch dazu in ein Internat. Es war ein schreckliches Jahr. Das schlimmste in meinem ganzen Leben. Als hätte man mich in ein tiefes Becken geworfen, ohne daß ich schwimmen kann.«
»Und dann?«
»Nichts dann. Ich kann noch immer nicht schwimmen.«
»Im wörtlichen Sinne oder im übertragenen?«
»Beides, Herr General.«
»Man hat Ihnen nie das Schwimmen beigebracht?«
»Nein. Was soll ich damit?«
»Eh … schwimmen.«
»Kulturell gesehen entspringen wir eher einer Generation von Infanteristen und Artilleristen, wissen Sie?«
»Was faseln Sie da? Ich rede nicht von einer Schlacht! Ich rede vom Meer! Und überhaupt, warum sind Sie eigentlich nicht früher in die Schule gegangen?«
»Meine Mutter hat uns unterrichtet.«
»Wie bei Ludwig dem Heiligen?«
»Genau.«
»Wie hieß sie noch mal?«
»Bianca von Kastilien.«
»Ach ja. Und warum? Haben Sie so weit außerhalb gewohnt?«
»In unserem Nachbardorf gab es durchaus eine staatliche Schule, aber dort bin ich nur ein paar Tage geblieben.«
»Warum?«
»Weil sie staatlich war, ganz einfach.«
»Aha! Die alte Geschichte von den Blauen, richtig?«
»Richtig.«
»Aber das war vor mehr als zwei Jahrhunderten! Einiges hat sich seitdem weiterentwickelt!«
»Verändert, zweifellos … weiterentwickelt? Da … da bin ich mir nicht so sicher.«
»…«
»Sind Sie schockiert?«
»Nein, nein, ich respektiere Ihre … Ihre …«
»Meine Werte?«
»Ja, wenn Sie so wollen, wenn Ihnen dieses Wort genehm ist, aber wovon leben Sie dann?«
»Ich verkaufe Postkarten!«
»Das ist doch verrückt. Total bescheuert.«
»Wissen Sie, im Vergleich zu meinen Eltern habe ich mich sehr … weiterentwickelt, wie Sie es nennen, ich habe mich immerhin von manchem distanziert.«
»Und wie sind Ihre Eltern?«
»Nun.«
»Ausgestopft? Einbalsamiert? Fest verschraubt in einem Glas mit Formalin und Lilienblüten?«
»Ein wenig trifft das zu, in der Tat«, sagte er belustigt.
»Sie bewegen sich doch aber nicht in einer Sänfte!«
»Nein, aber das liegt daran, daß sie keine Träger mehr finden!«
»Was machen sie?«
»Pardon?«
»Beruflich?«
»Sie sind Grundbesitzer.«
»Ist das alles?«
»Das ist viel Arbeit, wissen Sie?«
»Aber hm … Sind Sie sehr reich?«
»Nein. Ganz und gar nicht. Im Gegenteil.«
»Unglaublich, diese Geschichte. Und wie haben Sie das Internat überstanden?«
»Dank Gaffiot.«
»Wer ist das?«
»Das ist niemand, das ist ein sehr voluminöses Lateinwörterbuch, das in meinem Schulranzen steckte, der mir als Schleuder diente. Ich habe meine Tasche am Riemen gepackt, damit Schwung geholt und … Tätätätä! Den Feind zur Strecke gebracht.«
»Und weiter?«
»Wie weiter?«
»Heute?«
»Na ja, meine Liebe, heute ist es ganz einfach, Sie sehen vor sich ein herausragendes Exemplar des homo degeneraris, das heißt ein Wesen, welches für das Leben in einer Gesellschaft völlig ungeeignet ist, deplaziert, skurril und vollkommen anachronistisch!«
Er lachte.
»Wie soll es weitergehen?«
»Ich weiß es nicht.«
»Sind Sie in Therapie?«
»Nein, aber ich habe bei der Arbeit eine junge Frau kennengelernt, eine ulkige, spinnerte Verrückte, die mir ständig in den Ohren liegt, daß ich sie einmal zu ihrem Schauspielunterricht begleiten soll. Sie hat alle möglichen und denkbaren Therapeuten abgeklappert und behauptet, das Theater sei immer noch die beste Therapie.«
»Tatsächlich?«
»Sagt sie.«
»Aber sonst gehen Sie nie aus? Sie haben keine Freunde? Keine Vertrauten? Keine … Kontakte zum einundzwanzigsten Jahrhundert?«
»Nein. Nicht wirklich. Und Sie?«
5
Das Leben nahm also wieder seinen Lauf. Camille trotzte der Kälte bei Einbruch der Dunkelheit, nahm die Metro in entgegengesetzter Richtung zur arbeitenden Masse und betrachtete die erschöpften Gesichter.
Die Mamas, die mit offenem Mund vor dem beschlagenen Fenster schliefen, bevor sie ihre Kleinen in den eintönigen Vororten der 7. Zone der Pariser Verkehrsbetriebe abholten, die Frauen, mit billigem Modeschmuck behangen, die gleichgültig in ihrer Fernsehzeitschrift blätterten und ihre zu spitzen Zeigefinger mit Spucke befeuchteten, die Männer in weichen Mokassins und bunt gemusterten Socken, die laut seufzend zweifelhafte Geschäftsberichte studierten, und die Nachwuchskräfte der Führungsetage mit fettiger Haut, die sich die Zeit damit vertrieben, mit ihren auf Ratenzahlung gekauften Handys Unsummen auf den Kopf zu hauen.
Und all die anderen, die nichts Besseres zu tun hatten, als sich instinktiv an die Eisenstangen zu klammern, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Diejenigen, die nichts und niemanden sahen. Weder die weihnachtliche Reklame – goldene Tage, goldene Geschenke, Lachs umsonst und Gänseleber zu Großhandelspreisen – noch die Zeitung des Nachbarn, noch die Nervensäge mit ausgestreckter Hand und näselndem Gejammer, tausendmal heruntergeleiert, noch die junge Frau gegenüber, die ihre trübsinnigen Blicke und die Knitterfalten ihrer grauen Überzieher auf Papier bannte.
Anschließend wechselte sie zwei, drei belanglose Worte mit dem Wachmann des Bürokomplexes, zog sich um, hielt sich dabei an ihrem Wägelchen fest, streifte eine unförmige Trainingshose über, einen türkisfarbenen Nylonkittel, Profis für Sie im Einsatz, und wärmte sich langsam auf, indem sie wie besessen schuftete, bevor sie erneut fröstelte, zum x-ten Mal eine Zigarette rauchte und die letzte Metro nahm.
Als sie Camille sah, stopfte Super Josy die Fäuste noch tiefer in die Taschen und warf ihr ein verkniffenes Lächeln zu, das beinahe zärtlich war.
»So ein Mist … Eine Wiederkehrerin. Das kostet mich zehn Euro«, knurrte sie.
»Pardon?«
»Eine Wette mit den Mädels. Ich hatte nicht damit gerechnet, daß Sie zurückkommen.«
»Warum nicht?«
»Weiß nicht, ich hatte so ein Gefühl. Aber gut, kein Problem, ich werd schon blechen! He ihr, wir haben noch einiges vor uns, los geht’s. Bei dem Mistwetter machen sie uns alles dreckig. Man fragt sich, ob diese Leute nie gelernt haben, wozu ein Fußabstreifer gut ist. Seht euch das an, habt ihr die Eingangshalle gesehen?«
Mamadou schlurfte über den Boden:
»Na, du hast ja wohl die Woche geschlafen wie ein Baby, hab ich recht?«
»Woher weißt du das?«
»Deine Haare. Die sind zu schnell gewachsen.«
»Alles in Ordnung bei dir? Du bist nicht so ganz in Form, oder?«
»Schon in Ordnung.«
»Hast du Sorgen?«
»Ach Sorgen. Ich habe Kinder, die krrank sind, einen Mann, der seinen Lohn verspielt, eine Schwägerin, die mir auf den Geist geht, einen Nachbar, der in den Fahrstuhl gekackt hat, und ein Telefon, das abgeklemmt wurde, aber ansonsten ist alles in Ordnung.«
»Warum hat er das gemacht?«
»Wer?«
»Der Nachbar?«
»Keine Ahnung, aber ich hab ihm gedrroht, das nächste Mal wird er seine Scheiße frressen! Das kannst du mir glauben. Du lachst?«
»Was haben deine Kinder?«
»Einer hustet, der andere hat Brrechdurchfall. Gut jetzt. Reden wir nicht mehr davon, da krrieg ich zuviel Kummer, und wenn ich Kummer hab, bin ich zu nix mehr zu gebrauchen.«
»Und dein Bruder? Kann er sie nicht mit seinen Amuletten kurieren?«
»Und die Pferde? Du glaubst doch wohl nicht, daß er die Sieger rausfindet? Komm, hör mir auf mit diesem Nichtsnutz.«
Das Ferkel vom fünften Stock war anscheinend ins Mark getroffen, denn sein Büro war einigermaßen aufgeräumt. Camille zeichnete einen Engel von hinten mit zwei Flügeln, die aus dem Anzug herausragten, und einen schönen Heiligenschein.
Auch in der Wohnung fand jeder allmählich seinen Rhythmus. Die anfängliche Beklemmung, jener unsichere Reigen und die Gesten der Verlegenheit verwandelten sich allmählich in eine diskrete, routinierte Choreographie.
Camille stand am späten Vormittag auf, sorgte aber immer dafür, daß sie gegen drei in ihrem Zimmer war, wenn Franck zurückkam. Dieser verließ gegen halb sieben die Wohnung und begegnete auf der Treppe mitunter Philibert. Mit ihm trank sie Tee oder nahm ein leichtes Abendessen zu sich, bevor sie ihrerseits zur Arbeit ging und nicht vor ein Uhr nachts nach Hause kam.
Franck schlief um diese Uhrzeit nie, er hörte Musik oder sah fern. Unter seiner Tür drang der Geruch von Gras durch. Sie fragte sich, wie er diesen Wahnsinnsrhythmus durchhielt, und fand bald die Antwort: Er hielt ihn nicht durch.
Zwangsläufig krachte es irgendwann. Beim Öffnen des Kühlschranks ließ er einen Schrei los, weil die Lebensmittel nicht richtig verstaut oder falsch eingewickelt waren, und legte sie auf den Tisch, wobei er die Teekanne umwarf und die beiden mit allen möglichen Schimpfwörtern belegte:
»Scheiße! Wie oft muß ich euch das noch sagen? Die Butter gehört in eine Butterdose, weil sie sonst alle Gerüche annimmt! Der Käse auch! Die Frischhaltefolie ist doch nicht zum Angucken da, verdammt noch mal! Und was ist das? Ein Salatkopf? Warum laßt ihr den in der Plastikfolie? Die Plastikfolie macht alles kaputt! Das habe ich dir schon mal gesagt, Philibert! Wo sind denn die ganzen Dosen, die ich euch neulich mitgebracht hab? Okay, und das hier? Die Zitrone? Was macht die im Eierfach? Eine angeschnittene Zitrone gehört eingepackt oder verkehrt rum auf einen Teller, capito?«
Anschließend verzog er sich mit seinem Bier, und unsere beiden Verbrecher warteten das Bersten der Tür ab, bevor sie ihre Unterhaltung wieder aufnahmen:
»Und hat sie wirklich gesagt: Wenn sie kein Brot haben, sollen sie doch Hefekuchen essen …«
»Natürlich nicht, also bitte. Niemals hätte sie einen solchen Unsinn von sich gegeben. Sie war eine sehr kluge Frau, wissen Sie?«
Natürlich hätten sie seufzend ihre Tassen abstellen und ihm entgegenhalten können, daß er sich für jemanden, der hier nie aß und das Gerät nur zum Zwischenparken seiner Sixpacks nutzte, ziemlich aufführte. Aber das war es nicht wert.
Er war nun mal ein Meckerfritze, sollte er meckern.
Sollte er meckern.
Und außerdem wartete er nur darauf. Auf die kleinste Gelegenheit, um ihnen an die Gurgel zu springen. Vor allem ihr. Er hatte sie im Visier und bedachte sie, wann immer er sie traf, mit bösen Blicken. Sie konnte noch soviel Zeit in ihrem Zimmer verbringen, manchmal streiften sie sich doch, und sie bekam einen Schwall mörderischer Schwingungen ab, die ihr je nach Laune ziemlich zusetzten oder ihr ein müdes Lächeln abrangen.
»He, was ist los? Was grinst du so? Paßt dir meine Fresse nicht?«
»Nein, nein. Nichts ist.«
Und sie beeilte sich, an etwas anderes zu denken.
In den Gemeinschaftsräumen war sie auf der Hut. Hinterließ den Ort genauso sauber, »wie Sie ihn beim Eintreten vorzufinden wünschen«, schloß sich im Badezimmer ein, wenn er nicht da war, versteckte all ihre Toilettenartikel, wischte lieber zweimal als gar nicht über den Küchentisch, leerte ihren Aschenbecher in eine Plastiktüte, die sie sorgfältig verknotete, bevor sie sie in den Mülleimer warf, versuchte, sich so unauffällig wie möglich zu verhalten, machte sich so klein es eben ging, wich den Schlägen aus und fragte sich schließlich, ob sie nicht früher als vorgesehen wieder ausziehen sollte.
Sollte sie frieren, egal, sie würde mit diesem Blödmann nicht mehr aneinandergeraten, das zählte.
Philibert war betrübt:
»Aber Ca… Camille … Sie sind vi… viel zu intelligent, um sich von diesem u… ungehobelten Burschen beeindrucken zu la… lassen, wirklich … Sie … Sie stehen doch über der… derlei Dingen.«
»Eben nicht. Ich befinde mich auf exakt demselben Niveau. Deshalb kriege ich es mitten ins Gesicht.«
»Nein, nein! Überhaupt nicht! Sie beide kann man doch nicht in einem Atemzug nennen! Ha… haben Sie schon einmal seine Schrift gesehen? Haben Sie ihn schon einmal lachen hören, wenn er die plumpen Witze die… dieses minderbemittelten Fernsehunterhalters hört? Haben Sie ihn schon einmal etwas anderes lesen sehen als die Preisliste für gebrauchte Motorräder? Wa… warten Sie, der Junge ist doch auf dem geistigen Stand eines Zweijährigen! Er kann nichts dafür, der A… Arme. I… ich stelle mir vor, daß er als kleines Kind in eine Küche gekommen ist und seitdem nie wieder heraus. Kommen Sie, betrachten Sie die Dinge mit etwas A… Abstand. Seien Sie nachsichtiger, ›co… cooler‹, wie Sie sagen würden.«
»…«
»Wissen Sie, was meine Mutter zu mir gesagt hat, als ich es wagte, ihr gegenüber … widerstrebend auch nur ein Viertel der Hälfte der schrecklichen Dinge anzudeuten, die meine Stubenkameraden mir a… angetan haben?«
»Nein.«
»›Sie müssen lernen, mein Sohn, daß der Speichel der Kröte die weiße Taube nicht erreicht.‹ Das hat sie zu mir gesagt.«
»Und hat Sie das getröstet?«
»Überhaupt nicht! Im Gegenteil!«
»Sehen Sie …«
»Ja, aber bei Ihnen ist es nicht das g… gleiche. Sie sind nicht mehr zwölf. Und außerdem geht es nicht darum, die Pisse eines kleinen Ro… Rotzbengels zu trinken.«
»Hat man Sie dazu gezwungen?«
»Leider.«
»Tja, dann verstehe ich, daß die weiße Taube …«
»Wie Sie sagen, die weiße Tau… Taube ist nie du… durchgekommen. Außerdem spüre ich … ich sie immer noch hier«, scherzte er gequält und zeigte auf seinen Adamsapfel.
»Ja … Schauen wir mal.«
»Und außerdem, die Wahrheit ist ganz einfach, und Sie kennen sie ebensogut wie ich: Er ist ei… eifersüchtig. Er platzt fast vor Eifersucht. Versetzen Sie sich in seine Lage. Er hatte die Wohnung für sich a… allein, spazierte hier herum, wann und wie er wollte, meistens in Unterhose oder hi… hinter einer kopflosen jungen Pute her. Er konnte nach Belieben brüllen, fluchen, rülpsen, und unser Kontakt beschränkte sich auf den Austausch pra… praktischer Erwägungen, wie den Zustand der Armaturen oder den Einkauf von Toilettenpapier.
Ich habe mein Zimmer fast nie verlassen und mir Watte in die Ohren gesteckt, wenn ich mich konzentrieren mußte. Er war hier der König. So sehr, daß er nahezu den Ei… Eindruck gewinnen konnte, die Wohnung gehöre ihm in fine. Und dann kommen Sie und Rums. Nicht nur, daß er seinen Hosenlatz schließen muß, er muß noch dazu unsere Vertrautheit ertragen, hört uns mitunter lachen und fängt Bru… Bruchstücke unserer Unterhaltungen auf, von denen er nicht viel verstehen wird. Das muß ha… hart für ihn sein, meinen Sie nicht?«
»Ich hatte nicht das Gefühl, so viel Raum einzunehmen.«
»Nein, Sie … Sie sind im Gegenteil sehr zurückhaltend, aber wenn ich Ihnen etwas sagen soll, da… dann glaube ich … Ich glaube, daß Sie ihm imponieren.«
»He, das ist das Beste, was ich seit langem gehört habe!« rief sie.
»Ich? Ihn beeindrucken? Sie scherzen, hoffe ich? Ich hatte noch nie das Gefühl, von jemandem dermaßen verachtet zu werden.«
»Tzz … Er ist nicht sehr gebildet, das steht fest, aber er ist bei weitem kein I… Idiot, dieses Früchtchen, und Sie spielen mitnichten in derselben Li… Liga wie seine Süßen, wissen Sie? Sind Sie schon einmal einer von ihnen begegnet, sei… seit Sie hier sind?«
»Nein.«
»Nun, Sie werden sehen. Es ist … es ist erstaunlich, wirklich. Gleichwohl, ich bi… bitte Sie, stehen Sie über den Dingen. Mir zuliebe, Camille.«
»Aber ich werde nicht mehr lange hiersein, das wissen Sie doch.«
»Ich auch nicht. Er auch nicht, aber bis dahin sollten wir versuchen, in guter Nachbarschaft zu leben … Die Welt ist ohne uns schon schlimm genug, nicht wahr? Und außerdem bringen Sie mich zum Sto… Stottern, wenn Sie solche du… dummen Sachen sagen.«
Sie stand auf, um den Wasserkessel auszustellen.
»Sie sehen nicht sehr überzeugt aus.«
»Doch, doch, ich will es versuchen. Aber na ja, ich bin nicht sonderlich gut im Kräftemessen. Normalerweise schmeiße ich alles hin, anstatt nach Argumenten zu suchen.«
»Warum?«
»Darum.«
»Weil es weniger anstrengend ist?«
»Ja.«
»Das ist keine gute Strategie, glau… glauben Sie mir. Auf lange Sicht wird es Sie ins Verderben stürzen.«
»Es hat mich schon ins Verderben gestürzt.«
»Apropos Strategie, ich werde nächste Woche an einer fa… faszinierenden Tagung über die Militärkunst Napoleons teilnehmen, wollen Sie mitkommen?«
»Nein, aber schießen Sie los, ich bin ganz Ohr: Erzählen Sie mir von Napoleon.«
»Oh! Ein weites Feld … Möchten Sie eine Zi… Zitronenscheibe?«
»Halt, mein Lieber! Ich rühre keine Zitrone mehr an! Ich rühre hier gar nichts mehr an.«
Er sah sie mit großen Augen an:
»Ü… über den Dingen, hatte ich gesagt.«
6
Die wiedergefundene Zeit, für einen Ort, an dem sie alle krepieren sollten, der Name war wirklich gut gewählt. Total daneben.
Franck war schlecht gelaunt. Seine Großmutter redete nicht mehr mit ihm, seit sie hier wohnte, und er mußte sich von Paris bis hierher das Hirn darüber zermartern, was er ihr erzählen könnte. Das erste Mal war er überrumpelt worden, und sie hatten sich den ganzen Nachmittag über wie zwei Porzellanhunde beäugt. Schließlich hatte er sich ans Fenster gestellt und laut kommentiert, was auf dem Parkplatz vor sich ging: von den Alten erzählt, die ins Auto geladen wurden, von denen, die gebracht wurden, den Paaren, die sich anblafften, den Kindern, die zwischen den Autos durchflitzten, dem einen, der sich eine Ohrfeige einfing, der jungen Frau, die weinte, dem Porsche Roadster, der Ducati, dem neuen 5er-BMW und den unaufhörlich eintreffenden und abfahrenden Krankenwagen. Ein spannender Tag, wirklich.
Madame Carminot hatte den Umzug in die Hand genommen, und er war am ersten Montag völlig arglos angekommen, ohne auch nur im mindesten zu ahnen, was ihn erwartete.
Schon die Örtlichkeiten an sich – Geldnot war Gebot gewesen, er hatte mit einem staatlichen Altenheim vorliebnehmen müssen, das in Windeseile zwischen einem Buffalo Grill und einer industriellen Mülldeponie am Stadtrand hochgezogen worden war. Es war ein riesiges Gewerbegebiet, eine riesige Pleite. Eine riesige Pleite mitten im Nichts. Er hatte sich verfahren und über eine Stunde zwischen gigantischen Lagerhallen nach einem Straßennamen gesucht, den es nicht gab, hatte an jedem Verkehrskreisel gehalten, unverständliche Pläne studiert, und als er endlich sein Motorrad abstellte und den Helm absetzte, wäre er fast von einem heftigen Windstoß weggefegt worden. »Nein, was ist das denn? Seit wann quartiert man alte Leute in einem Windkanal ein? Ich dachte immer, daß ihnen der Wind den Kopf aushöhlt. Scheiße, Mann. Sagt, daß das nicht wahr ist. Daß sie nicht hier ist. Erbarmen. Sagt, daß ich hier falsch bin.«
Drinnen herrschte eine mörderische Hitze, und als er sich ihrem Zimmer näherte, spürte er, wie es ihm die Kehle zuschnürte, zuschnürte, zuschnürte, so daß er Minuten brauchte, bis er das erste Wort herausbekam.
All diese Alten, scheußlich, traurig, deprimierend, wimmernd, stöhnend mit ihren Latschen, ihren Gebissen, ihren Sauggeräuschen, ihren dicken Bäuchen und klapprigen Armen. Der eine mit einem Schlauch in der Nase, der andere, der in seiner Ecke vor sich hinheulte, und die Frau, die so zusammengekauert in ihrem Rollstuhl saß, als hätte sie gerade einen Wundstarrkrampf. Man konnte ihre Strumpfhalter und ihre Windel sehen.
Und diese Hitze, verdammt! Warum machten sie nicht die Fenster auf? Damit die Alten schneller abkratzten?
Als er das nächste Mal kam, hatte er seinen Helm bis zu Zimmer 87 aufbehalten, um all das nicht mehr sehen zu müssen, doch eine Krankenschwester hatte ihn erwischt und ihn aufgefordert, ihn umgehend abzusetzen, weil er ihre Schützlinge erschrecke.
Seine Oma hatte sich geweigert, mit ihm zu sprechen, jedoch seinen Blick gesucht, um ihm zu trotzen und ein schlechtes Gewissen zu bereiten: »Na? Bist du stolz auf dich, Kleiner? Antworte mir. Bist du stolz auf dich?« Das wiederholte sie stumm, während er die Gardinen hochhob, um nach seinem Motorrad zu sehen.
Er war zu aufgewühlt, um schlafen zu können. Er zog den Sessel näher ans Bett, suchte nach Worten, nach Sätzen, nach Anekdoten, nach irgendwelchem Stuß, den er erzählen konnte, und schaltete dann, kriegsmüde, den Fernseher ein. Er sah sie nicht an, er betrachtete die Wanduhr hinter ihr und zählte ab: In zwei Stunden mach ich die Fliege, in einer Stunde mach ich die Fliege, in zwanzig Minuten …
Diese Woche war er ausnahmsweise sonntags gekommen, weil Potelain ihn nicht brauchte. Er hatte im Eiltempo die Eingangshalle durchquert und nur mit den Achseln gezuckt, als er die neue, viel zu grelle Dekoration bemerkte und all diese armen Alten mit ihren spitzen Hüten.
»Was ist denn hier los, ist heute Karneval?« hatte er die Dame im Kittel gefragt, die mit ihm zusammen im Fahrstuhl fuhr.
»Wir proben eine kleine Aufführung für Weihnachten. Sie sind doch der Enkel von Madame Lestafier, nicht wahr?«
»Ja.«
»Ihre Großmutter ist nicht sehr kooperativ.«
»So?«
»Nein. Und das ist noch freundlich ausgedrückt. Ein richtiger Sturkopf.«
»Ich dachte, so sei sie nur mit mir. Ich dachte, bei Ihnen wäre sie … hm … pflegeleichter.«
»Nein, zu uns ist sie charmant. Eine richtige Perle. Überaus liebenswürdig. Mit den anderen läuft es nicht gut. Sie will sie nicht sehen und ißt lieber nichts, als in den Gemeinschaftssaal zu gehen.«
»Wie? Sie ißt nichts?«
»Tja, wir haben schließlich nachgegeben. Sie bleibt in ihrem Zimmer.«
Da sie ihn erst am nächsten Tag erwartet hatte, wurde sie von seinem Anblick überrascht und hatte nicht mehr die Zeit, das Kostüm der gekränkten Alten überzustreifen. Ausnahmsweise lag sie nicht böse und stocksteif im Bett, sie saß am Fenster und nähte.
»Omi?«
Verflixt, sie hatte verdrießlich aussehen wollen, konnte aber nicht umhin, ihn anzulächeln.
»Siehst du dir die Landschaft an?«
Sie hatte fast Lust, ihm die Wahrheit zu sagen: Machst du dich über mich lustig? Was für eine Landschaft? Nein. Ich warte auf dich, mein Junge. Ich verbringe meine Tage mit Warten. Auch wenn ich weiß, daß du nicht kommst, bin ich da. Ich bin immer da. Weißt du, mittlerweile kann ich dein Motorrad schon von weitem hören, und ich warte, bis du deinen Helm abgesetzt hast, um ins Bett zu kriechen und dir meine Grimassensuppe zu servieren. Aber sie konnte an sich halten und begnügte sich mit einem Brummen.
Er ließ sich zu ihren Füßen nieder und lehnte sich an die Heizung.
»Alles in Ordnung?«
»Mmm.«
»Was machst du da?«
»…«
»Bist du eingeschnappt?«
»…«
Sie starrten sich eine gute Viertelstunde lang an und spielten, wer zuerst lacht, hat verloren, dann rieb er sich den Kopf, schloß die Augen, seufzte, rückte ein wenig von ihr ab, um ihr direkt gegenüberzusitzen, und hob mit monotoner Stimme an:
»Hör zu, Paulette Lestafier, hör mir gut zu:
Du hast allein in einem Haus gelebt, das du geliebt hast und ich auch. Du bist in aller Frühe aufgestanden, hast dir deinen Malzkaffee gekocht, hast ihn getrunken und dir dabei die Farbe der Wolken angeschaut, um zu wissen, wie das Wetter wird. Dann hast du deine Zöglinge gefüttert, stimmt’s? Deine Katze, die Katzen der Nachbarn, deine Rotkehlchen, deine Meisen und alle Spatzen dieser Welt. Du hast deine Gartenschere genommen und deine Blumen versorgt, bevor du dich deiner Morgentoilette gewidmet hast. Du hast dich angezogen, auf den Briefträger oder den Metzger gewartet. Den dicken Michel, diesen Gauner, der dir immer ein Beefsteak zu 300 Gramm abgeschnitten hat, wenn du eins zu 100 Gramm verlangt hast, obwohl er genau wußte, daß du keine Zähne mehr hast. Aber du hast nichts gesagt. Du hattest zu viel Angst, daß er am nächsten Dienstag vergessen würde zu hupen. Den Rest hast du gekocht, um deiner Suppe etwas Geschmack zu geben. Gegen elf hast du deine Einkaufstasche genommen und bist zum Café des alten Grivaud gegangen, um die Zeitung und dein Brot zu kaufen. Du hast zwar schon seit langem keins mehr gegessen, hast es aber trotzdem weiterhin gekauft. Aus Gewohnheit. Und für die Vögel. Oft bist du einer alten Freundin begegnet, die schon vor dir die Todesanzeigen gelesen hatte, und ihr habt seufzend über eure Toten gesprochen. Anschließend hast du ihr die Neuigkeiten von mir erzählt. Auch wenn du keine hattest. Für diese Leute war ich schon genauso berühmt wie Bocuse, stimmt’s? Du wohnst seit fast zwanzig Jahren allein, aber du hast immer noch eine saubere Tischdecke aufgelegt und den Tisch schön gedeckt, mit einem Glas mit Stiel und einer Vase voller Blumen. Wenn ich mich recht erinnere, waren es im Frühling Anemonen, im Sommer Astern, und im Winter hast du auf dem Markt einen Strauß gekauft und dir bei jedem Schritt gesagt, daß er ziemlich häßlich ist und du zuviel dafür bezahlt hast. Nachmittags hast du auf dem Sofa ein Mittagsschläfchen gehalten, und dein dicker Kater hat sich erbarmt, sich für einen Moment auf deinen Schoß zu legen. Anschließend hast du zu Ende gebracht, was du in den Blumenbeeten oder im Gemüsegarten am Morgen angefangen hattest. Ja, der Gemüsegarten. Du hast nicht mehr viel darin gemacht, aber immerhin, er hat noch Eßbares abgeworfen, und du hast gestrahlt, wenn Yvonne ihre Karotten im Supermarkt gekauft hat. Für dich war das der Gipfel der Schande.
Die Abende waren ein bißchen zu lang, stimmt’s? Du hast gehofft, daß ich anrufe, aber ich habe nicht angerufen, dann hast du den Fernseher angemacht und darauf gewartet, daß dich dieser ganze Unsinn müde macht. Bei der Werbung bist du aus dem Schlaf geschreckt. Du hast deine Runde durchs Haus gedreht und dabei deinen Schal fest um dich gezogen und die Fensterläden geschlossen. Dieses Geräusch, das Geräusch von Fensterläden, die in der Dämmerung knarren, hörst du heute noch, das weiß ich, weil es mir genauso geht. Ich wohne jetzt in einer Stadt, die so anstrengend ist, daß man nichts mehr hört, aber diese Geräusche, der hölzernen Fensterläden und der Tür zum Schuppen, ich brauche nur die Ohren zu spitzen, dann höre ich sie schon …
Es stimmt, ich hab nicht angerufen, aber ich hab an dich gedacht, weißt du? Und wenn ich dich besucht hab, hab ich die Vorträge der heiligen Yvonne, die mich beiseite nahm und mir den Arm tätschelte, nicht gebraucht, um zu begreifen, daß es mit dir bergab ging. Ich hab mich nicht getraut, was zu sagen, aber ich hab natürlich gesehen, daß deine Blumenbeete nicht mehr so gepflegt waren und dein Gemüsegarten nicht mehr so ordentlich. Ich hab genau gesehen, daß du nicht mehr so schmuck warst, daß deine Haare eine ganz merkwürdige Farbe hatten und der Rock falsch rum saß. Ich hab gemerkt, daß dein Gasherd dreckig war und die potthäßlichen Pullover, die du mir weiterhin gestrickt hast, voller Löcher, daß deine Strümpfe nicht zusammenpaßten und du dich überall gestoßen hast. Ja, sieh mich nicht so an, Omi. Ich hab sie immer gesehen, deine riesigen blauen Flecken, die du unter deinen Strickwesten verbergen wolltest.
Ich hätte schon viel früher auf dich einreden können bei alledem. Dich zwingen, zum Arzt zu gehen, und mit dir schimpfen, damit du aufhörst, dich mit dem Spaten abzumühen, den du kaum noch heben konntest, ich hätte Yvonne bitten können, auf dich aufzupassen, dich zu überwachen und mir deine Untersuchungsergebnisse zu schicken. Aber nein, ich hab überlegt, daß es besser ist, dich in Ruhe zu lassen, und daß der Tag, an dem es nicht mehr geht, na ja, dann würdest du es wenigstens nicht bereuen und ich auch nicht. Du hättest wenigstens ein gutes Leben gehabt. Glücklich. Angenehm. Bis zum Schluß.
Jetzt ist er gekommen, der Tag. Da sind wir jetzt. Und du mußt dich entscheiden, meine Liebe. Anstatt böse auf mich zu sein, solltest du lieber denken, was für ein Glück du hattest, daß du mehr als achtzig Jahre in einem wunderschönen Haus wohnen durftest und …«
Sie weinte.
»… und außerdem bist du ungerecht zu mir. Ist es meine Schuld, daß ich so weit weg wohne und allein bin? Ist es meine Schuld, daß du Witwe bist? Ist es meine Schuld, daß du nicht mehr Kinder hast, die sich heute um dich kümmern können, als meine
gestörte Mutter? Ist es meine Schuld, wenn ich keine Geschwister habe, die sich mit Besuchen abwechseln?
Nein, das ist nicht meine Schuld. Meine einzige Schuld ist, daß ich mir diesen beschissenen Beruf ausgesucht hab. Außer ackern wie ein Blöder kann ich nichts tun, und das Schlimme ist, weißt du, daß ich nichts anderes tun könnte, selbst, wenn ich wollte. Ich weiß nicht, ob du dir darüber im klaren bist, aber ich arbeite jeden Tag außer montags, und montags komm ich dich besuchen. Jetzt tu nicht so erstaunt. Ich hab dir doch gesagt, daß ich sonntags Extraschichten fahre, um mein Motorrad abzuzahlen. Du siehst, ich kann keinen einzigen Tag morgens ausschlafen. Ich fang jeden Morgen um halb neun an und komm abends nicht vor Mitternacht raus. Darum muß ich nachmittags schlafen, damit ich das durchhalte.
Da siehst du’s, das ist mein Leben: nichts. Ich tu nichts. Ich seh nichts. Ich kenn nichts, und das Schlimmste ist, ich versteh auch nichts. In dem ganzen Chaos gab’s nur ein Gutes, eins nur, die Bude, die ich bei dem seltsamen Vogel ergattert hatte, von dem ich dir schon oft erzählt hab. Dem Adligen, weißt du? Okay, und selbst das läuft kacke im Moment. Er hat ein Mädchen angeschleppt, das jetzt da ist, das bei uns wohnt und mir dermaßen auf den Keks geht, das kannst du dir nicht vorstellen. Sie ist nicht mal seine Freundin! Ob der Typ sie irgendwann mal flachlegt … eh … Pardon, ob er sie irgendwann mal rumkriegt, ich weiß es nicht. Nein, es ist einfach nur ein armes Ding, das er unter seine Fittiche genommen hat, und jetzt ist die ganze Atmosphäre in der Wohnung einfach nur verkorkst, und ich werd mir was anderes suchen müssen. Gut, aber das ist nicht so schlimm, ich bin schon so oft umgezogen, daß es auf eine Adresse mehr oder weniger nicht ankommt. Das krieg ich schon hin. Bei dir allerdings, da kann ich nichts machen, verstehst du? Zum ersten Mal hab ich einen Chef, mit dem ich gut kann. Ich erzähl dir oft, wie er brüllt und so, trotzdem, der Typ ist korrekt. Zum einen gibt’s keinen Zoff mit ihm, zum anderen ist er super. Ich hab wirklich das Gefühl, bei ihm was dazuzulernen, verstehst du? Ich kann ihn jetzt nicht einfach im Stich lassen, jedenfalls nicht vor Ende Juli. Ich hab ihm das mit dir nämlich erzählt, weißt du? Ich hab ihm gesagt, daß ich lieber wieder hier in der Gegend arbeiten will, um näher an dir dran zu sein, und ich weiß, daß er mir helfen wird, aber bei dem Niveau, das ich heut hab, will ich nicht mehr einfach irgendwas annehmen. Wenn ich hierher zurückgeh, dann entweder als zweiter Chef in einem Feinschmeckerrestaurant oder als Chef in einem normalen Laden. Ich will hier nicht mehr den Lakai machen, ich hab schon genug eingesteckt. Du mußt jetzt also Geduld haben und aufhören, mich so anzusehen, sonst, das sag ich dir ganz offen, komm ich dich nämlich gar nicht mehr besuchen.
Ich sag’s dir noch mal, ich hab nur einen freien Tag in der Woche, und wenn mich dieser Tag runterzieht, tja, dann ist das das Ende für mich. Außerdem kommen jetzt die Feiertage, und ich muß noch mehr arbeiten als sonst, du könntest mir auch mal helfen, verdammt.
Moment, eine Sache noch. Eine Frau von hier hat mir erzählt, daß du die anderen nicht sehen willst, ich versteh dich gut, keine Frage, sie sind ja nicht wirklich witzig, die Leutchen hier, aber du könntest wenigstens ein Minimum mitmachen. Wer weiß, vielleicht gibt es ja noch eine andere Paulette hier, versteckt in ihrem Zimmer, die genauso verloren ist wie du. Vielleicht würde sie auch gern über ihren Garten reden und ihren wunderbaren Enkel, aber wie soll sie dich finden, wenn du hier sitzt und schmollst wie ein Kind?«
Sie sah ihn fassungslos an.
»Okay, das war’s. Ich hab alles gesagt, was ich auf dem Herzen hatte, jetzt kann ich nicht mal mehr aufstehen, weil mir der Ar… der Hintern weh tut. Und? Was nähst du da eigentlich?«
»Bist du’s, Franck? Bist du’s wirklich? Es ist das erste Mal in meinem Leben, das ich dich so viel am Stück reden höre. Du bist doch nicht krank?«
»Nee, ich bin nicht krank, ich bin nur müde. Ich hab die Schnauze voll, verstehst du?«
Sie betrachtete ihn lange, schüttelte dann den Kopf, als würde sie endlich aus ihrer Erstarrung erwachen. Sie hielt ihr Nähzeug hoch:
»Ach, das ist nichts Besonderes … Das ist für Nadège, ein ganz liebes Ding, das morgens hier arbeitet. Ich flicke ihren Pullover. Da fällt mir ein, kannst du mir mal das Garn einfädeln, ich finde nämlich meine Brille nicht?«
»Willst du dich nicht aufs Bett setzen, dann kann ich den Sessel nehmen?«
Kaum hatte er sich entspannt, schlief er bereits.
Den Schlaf des Gerechten.
Er wachte auf, als das Tablett hereingetragen wurde.
»Was ist das?«
»Abendessen.«
»Warum gehst du nicht nach unten?«
»Abends bekommen wir das Essen immer aufs Zimmer.«
»Aber wie spät ist es denn?«
»Halb sechs.«
»Was ist denn das für ein Schwachsinn? Die geben euch um halb sechs zu essen?«
»Ja, sonntags ist es so. Damit sie früher gehen können.«
»Pff … Und was ist das für ein Zeug? Das stinkt ja.«
»Ich weiß nicht, was es ist, und ich will es lieber gar nicht wissen.«
»Was ist das? Fisch?«
»Nein, sieht eher aus wie Kartoffelgratin, meinst du nicht?«
»Hör auf, das riecht nach Fisch. Und das hier, dieses braune Zeug, was ist das?«
»Kompott.«
»Nein?«
»Ich glaube schon.«
»Bist du sicher?«
»Ach, ich weiß es nicht.«
So weit waren sie in ihren Ermittlungen gekommen, als die junge Frau wieder auftauchte.
»Und? Schmeckt’s? Sind Sie fertig?«
»Moment mal«, Franck schnitt ihr das Wort ab, »Sie haben es ihr doch vor zwei Minuten erst gebracht. Lassen Sie ihr wenigstens die Zeit, in Ruhe zu essen!«
Unwirsch schloß die Frau die Tür hinter sich.
»So ist es jeden Tag, aber sonntags ist es am schlimmsten. Sie haben es eilig, nach Hause zu kommen. Man kann es ihnen nicht verdenken, oder?«
Die Alte sah zu Boden.
»Ach Omi, du Arme. Was ist das für eine Kacke. Was für eine Kacke.«
Sie faltete die Serviette.
»Franck?«
»Ja.«
»Entschuldige bitte …«
»Nein, ich entschuldige mich. Nichts läuft so, wie ich es gern hätte. Aber das macht nichts, ich gewöhn mich allmählich dran.«
»Kann ich jetzt abräumen?«
»Ja, ja, nur zu.«
»Gruß an den Küchenchef«, fügte Franck hinzu, »es war wirklich vorzüglich.«
»Okay, ich muß langsam los.«
»Willst du noch warten, bis ich mein Nachthemd angezogen habe?«
»Klar, mach nur.«
»Hilf mir mal auf.«
Er hörte im Badezimmer Wasser laufen und drehte sich schamhaft um, während sie unter die Decke schlüpfte.
»Mach das Licht aus, mein Junge.«
Sie machte ihre Nachttischlampe an.
»Komm her, setz dich noch zwei Minuten zu mir.«
»Zwei Minuten, okay? Ich wohn hier nicht im Zimmer nebenan, ich …«
»Zwei Minuten.«
Sie legte ihm die Hand aufs Knie und stellte ihm eine Frage, mit der er zuallerletzt gerechnet hätte:
»Sag mal, dieses Mädchen, von dem du mir vorhin erzählt hast … Das bei euch wohnt … ie ist sie so?«
»Sie ist blöd, eingebildet, mager und genauso gestört wie er.«
»Donnerwetter …«
»Sie …«
»Was sie?«
»Man könnte meinen, eine Intellektuelle. Nein, man könnte nicht nur meinen, sie ist eine. Sie und Philibert haben die Nase ständig in Büchern, und wie alle Intellektuellen können sie sich stundenlang über Sachen unterhalten, die sonst niemanden interessieren, und außerdem, was komisch ist, sie geht putzen.«
»So?«
»Nachts.«
»Nachts?«
»Ja. Ich sag doch, sie ist seltsam. Und wenn du wüßtest, wie mager sie ist. Es würde dir in der Seele weh tun.«
»Ißt sie nicht?«
»Keine Ahnung. Ist mir auch egal.«
»Wie heißt sie?«
»Camille.«
»Und wie ist sie?«
»Das hab ich dir doch schon gesagt.«
»Ihr Gesicht?«
»He, warum fragst du mich das alles?«
»Um dich länger hierzubehalten. Nein, weil es mich interessiert.«
»Na ja, sie hat ganz kurze Haare, fast eine Glatze, Richtung kastanienbraun. Blaue Augen, glaub ich. Keine Ahnung. Jedenfalls sind sie hell. Sie … ach, und außerdem ist es mir egal, hab ich dir doch schon gesagt!«
»Ihre Nase, wie ist die?«
»Normal.«
»…«
»Ich glaub auch, daß sie Sommersprossen hat. Sie … warum lachst du?«
»Nichts, ich höre dir zu.«
»Nein, ich hau jetzt ab, du gehst mir auf die Nerven.«
7
»Ich hasse den Dezember. Diese ganzen Feste machen mich depressiv.«
»Ich weiß, Mama. Das sagst du jetzt schon zum vierten Mal.«
»Macht dich das nicht depressiv?«
»Und sonst? Warst du mal im Kino?«
»Was soll ich denn im Kino?«
»Fährst du Weihnachten nach Lyon?«
»Muß wohl. Du weißt ja, wie dein Onkel ist. Es ist ihm schnurzegal, wie’s mir geht, aber wenn ich seine Pute verpasse, ist das gleich ein Drama. Kommst du dieses Jahr mit?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Ich arbeite.«
»Fegst du die Christbaumnadeln auf?« höhnte sie.
»Genau.«
»Willst du mich auf den Arm nehmen?«
»Nein.«
»Glaub mir, ich versteh dich. Diese ganzen Idioten rund um den Weihnachtskuchen, das ist schon schwer zu ertragen.«
»Du übertreibst. Sie sind doch eigentlich ganz nett.«
»Pfff … ihre nette Art macht mich auch depressiv.«
»Ich lade dich ein«, sagte Camille und fing die Rechnung ab. »Ich muß los.«
»Sag mal, hast du dir die Haare schneiden lassen?« fragte ihre Mutter vor dem Eingang zur Metro.
»Ich habe mich schon gefragt, ob du es noch merkst.«
»Das ist ja schrecklich! Warum hast du das gemacht?«
Camille stürmte in aller Eile die Rolltreppen hinunter.
Luft, schnell.
8
Sie wußte, daß sie da war, sie brauchte sie gar nicht zu sehen. Es war zu riechen.
Ein aufdringliches, süßliches Parfum, ihr drehte sich der Magen um. Sie stürmte in ihr Zimmer und sah sie im Salon. Franck fläzte auf dem Boden und lachte über eine junge Frau, die sich in den Hüften wiegte. Er hatte die Musik voll aufgedreht.
»Abend«, warf sie ihnen im Vorbeigehen zu.
Als sie die Tür zuzog, hörte sie ihn murmeln: »Das geht dich nichts an. Das braucht uns nicht zu kümmern, sag ich. Los, mach weiter.«
Das war keine Musik, das war Lärm. Ein schreckliches Stück. Die Wände, die Bilderrahmen und das Parkett bebten. Camille wartete noch einen Moment, dann ging sie hinüber:
»Du solltest die Musik etwas leiser drehen. Sonst kriegen wir Ärger mit den Nachbarn.«
Das Mädchen war stehengeblieben und hatte angefangen zu glucksen.
»He, Franck, ist sie das? Ist sie das? He? Bist du die Putze?«
Camille starrte sie lange an. Philibert hatte recht: Es war erstaunlich.
Ein Konzentrat aus Dummheit und ordinärem Gehabe. Plateauschuhe, Jeans mit Flitterkram, schwarzer BH, großmaschiger Pullover, selbstgefärbte Strähnchen und Gummilippen, nichts fehlte.
»Ja, das bin ich.« Dann an Franck gewandt, »stell das bitte leiser.«
»Mann! Du nervst. Komm schon. Husch, husch ins Körbchen.«
»Ist Philibert nicht da?«
»Nee, der ist bei Napoleon. Los, geh schlafen, sag ich.«
Das Mädchen lachte noch lauter.
»Wo ist der Lokus? He, wo ist der Lokus?«
»Stell das leiser, oder ich ruf die Bullen.«
»Ja, ja, genau, ruf die Bullen und hör auf, uns auf den Geist zu gehen. Los! Zieh Leine, sag ich!«
Pech für ihn, daß Camille ein paar Stunden mit ihrer Mutter hinter sich hatte.
Aber das konnte Franck nicht wissen.
Pech für ihn, also.
Sie machte auf dem Absatz kehrt, ging in sein Zimmer, trampelte über seine Sachen, machte das Fenster auf, zog den Stecker der Stereoanlage heraus und warf das Ding die vier Stockwerke hinunter.
»Ist schon okay. Das mit den Bullen hat sich erledigt.«
Dann, im Hinausgehen:
»He … Mach den Mund zu, sonst fängst du noch Fliegen.«
Sie schloß sich ein. Er trommelte, schrie, grölte, drohte ihr mit Vergeltung. Sie betrachtete sich währenddessen lächelnd im Spiegel und wurde von einem interessanten Selbstporträt überrascht. Leider war sie nicht in der Verfassung, irgend etwas zu malen: zu feuchte Hände.
Sie wartete, bis die Wohnungstür ins Schloß fiel, wagte sich dann in die Küche, aß eine Kleinigkeit und legte sich schlafen.
Er rächte sich mitten in der Nacht.
Gegen vier wurde Camille von einem schmachtenden Spektakel im Zimmer nebenan geweckt. Er grunzte, sie stöhnte. Er stöhnte, sie grunzte.
Sie stand auf und überlegte einen Moment im Dunkeln, ob sie nicht auf der Stelle ihre Sachen packen und verduften sollte.
Nein, flüsterte sie, nein, das wäre für ihn ein Triumph. Was für ein Lärm, mein Gott, was für ein Lärm. Das mußten sie absichtlich machen, das konnte nicht sein. Er feuerte sie bestimmt an, noch lauter zu sein. Himmel, war sie denn mit einem elektronischen Verzerrer ausgestattet, diese Tussi?
Er hatte gewonnen.
Ihre Entscheidung war gefallen.
Sie konnte nicht wieder einschlafen.
Am nächsten Morgen stand sie früh auf und machte sich leise fertig. Sie zog ihr Bett ab, legte die Bettwäsche zusammen und suchte einen großen Beutel, um alles in den Waschsalon zu bringen. Sie suchte ihre Sachen zusammen und stopfte sie in den gleichen kleinen Karton wie beim Einzug. Es ging ihr nicht gut. Ihr machte nicht so sehr zu schaffen, daß sie in ihr Zimmer zurückkehren sollte, sondern vielmehr, daß sie dieses Zimmer verlassen mußte. Den Staubgeruch, das Licht, das gedämpfte Flappen der seidenen Gardinen, das Knarren, die Lampenschirme und den Spiegel, in dem alles weicher aussah. Das seltsame Gefühl, sich außerhalb der Zeit zu befinden. Weit weg von allem. Philiberts Vorfahren hatten sie schließlich akzeptiert, und sie hatte sich damit vergnügt, sie anders und in anderen Situationen zu zeichnen. Der alte Marquis vor allem hatte sich als viel lustiger entpuppt als erwartet. Fröhlicher, jünger. Sie zog den Stecker ihres Kamins heraus und hätte nichts gegen einen Kabelaufwickler gehabt. Sie traute sich nicht, ihn über den Flur zu schieben, und ließ ihn vor der Tür stehen.
Dann nahm sie ihren Skizzenblock, kochte sich einen Tee und setzte sich ins Badezimmer. Sie hatte sich vorgenommen, es mitzunehmen. Es war das schönste Zimmer im ganzen Haus.
Sie fegte Francks Sachen beiseite, sein Deo Mennen-X, seine schäbige alte Zahnbürste, seine Bic Rasierklingen, sein Gel für empfindliche Haut – das beste – und seine Klamotten, die nach Frittierfett stanken. Sie feuerte alles in die Badewanne.
Als sie diesen Raum zum ersten Mal betrat, hatte sie ein verzücktes »Oh!« nicht unterdrücken können, und Philibert hatte ihr erzählt, daß es sich um ein Modell des Etablissements Porcher aus dem Jahre 1894 handelte. Eine Grille seiner Urgroßmutter, der kokettesten Pariserin der Belle Epoque. Ein wenig zu kokett im übrigen, den Augenbrauen seines Großvaters nach zu urteilen, wenn er von ihr und ihren Possen erzählte. Ganz Offenbach war da.
Als die Badewanne eingebaut wurde, versammelten sich alle Nachbarn, um sich zu beschweren, weil sie fürchteten, sie würde durch den Fußboden krachen, aber auch, um sie zu bewundern und vor Entzücken außer sich zu geraten. Sie war die schönste im ganzen Haus, vielleicht sogar in der Straße.
Sie war intakt, etwas angeschlagen, aber intakt.
Camille setzte sich auf den Wäschekorb und zeichnete die Form der Kacheln, die Friese, die Arabesken, die breite Porzellanbadewanne mit ihren vier krallenbewehrten Löwenfüßen, die abgenutzte Verchromung, den riesigen Brausekopf, der seit dem Ersten Weltkrieg nichts mehr ausgespuckt hatte, die Seifenschalen, die wie Weihwasserbecken herausstanden, und die halb herausgerissenen Handtuchhalter. Die leeren Flacons, Shocking von Schiaparelli, Transparent von Houbigant oder Le Chic von Molyneux, die Döschen mit Reispuder La Diaphane, die blauen Schwertlilien, die das Bidet überzogen, und die Waschbecken, so kunstvoll gearbeitet, so überreich verziert, so großzügig mit Blumen und Vögeln bedeckt, daß sie immer Skrupel hatte, ihren grauenhaften Toilettenbeutel auf die vergilbte Ablage zu stellen. Die Kloschüssel war erhalten, und der Behälter der Wasserspülung hing nach wie vor an der Wand. Sie beendete ihre Bestandsaufnahme damit, die Schwalben zu malen, die seit über einem Jahrhundert dort oben herumflatterten.
Ihr Skizzenheft war fast voll. Zwei oder drei Seiten noch …
Sie hatte nicht die Kraft, es durchzublättern, und sah darin so etwas wie ein Zeichen. Ende des Skizzenhefts, Ende der Ferien.
Sie spülte ihre Teetasse, verließ die Wohnung und zog die Tür ganz leise hinter sich zu. Während die Bettwäsche schleuderte, ging sie zu Darty unterhalb der Madeleine und kaufte eine neue Stereoanlage für Franck. Sie wollte ihm nichts schuldig sein. Sie hatte nicht die Zeit gehabt, sich die Marke seiner Anlage anzuschauen, und ließ sich vom Verkäufer an die Hand nehmen.
Es gefiel ihr gut, an die Hand genommen zu werden.
Als sie zurückkam, war die Wohnung leer. Oder still. Sie bemühte sich nicht, das herauszufinden. Sie stellte den Sony-Karton vor die Tür ihres Nachbarn, legte die Bettwäsche auf ihr ehemaliges Bett, verabschiedete sich von der Ahnengalerie, schloß die Läden und rollte ihren Kamin ins Mägdezimmer. Dort fand sie den Schlüssel nicht. Nun gut, sie stellte ihren Karton und ihren Wasserkessel darauf und ging zur Arbeit.
Je weiter der Abend fortschritt und die Kälte ihre triste Arbeit aufnahm, desto trockener wurde ihr Mund und desto härter ihr Bauch: Die Steine waren zurück. Sie stellte sich mit aller Kraft etwas Schönes vor, um nicht loszuheulen, und redete sich schließlich ein, sie sei wie ihre Mutter: durcheinander wegen der Feiertage.
Sie arbeitete still für sich.
Sie hatte keine große Lust mehr, die Reise fortzusetzen. Sie mußte den Tatsachen ins Auge sehen. Sie schaffte es nicht.
Sie würde wieder nach oben ziehen, in das Kämmerchen der Louise Leduc, und ihre Tasche abstellen.
Endlich.
Eine kurze Nachricht auf dem Schreibtisch des Herrn Exferkel riß sie aus ihren düsteren Gedanken:
Wer sind Sie? fragte eine schwarze, steile Schrift.
Sie stellte ihr Spritzfläschchen hin, legte die Lappen beiseite, setzte sich auf den riesigen Ledersessel und suchte nach zwei leeren Blättern.
Auf das erste Blatt zeichnete sie eine Art Kater Karlo, struppig und zahnlos, der sich auf einen fransigen Besen stützte und böse lächelte. Ein Liter Rotwein ragte aus seinem Kittel heraus, Proclean, die Profis etc. und er stimmte zu: Tja, das bin ich.
Auf das zweite Blatt zeichnete sie ein Pin-up-Girl der fünfziger Jahre. Hand auf der Hüfte, Schmollmund, ein Bein angewinkelt, die Brüste in eine hübsche Spitzenschürze gezwängt. Sie hielt einen Staubwedel in der Hand und gab zurück: Aber nicht doch – das bin ich.
Mit einem Textmarker hatte sie die Wangen rosa eingefärbt.
Aufgrund dieser Albernheiten hatte sie die letzte Metro verpaßt und mußte zu Fuß nach Hause gehen. Pah, darauf kam es jetzt auch nicht mehr an. Ein weiteres Zeichen nur. Sie war jetzt beinahe auf dem Grund angelangt, aber noch nicht ganz, oder?
Sie mußte sich noch etwas anstrengen.
Noch ein paar Stunden in der Kälte, und es wäre soweit.
Als sie das Tor aufmachte, fiel ihr ein, daß sie ihren Schlüssel nicht zurückgegeben hatte und daß sie ihre Sachen noch ins hintere Treppenhaus stellen mußte.
Und daß sie ihrem Gastgeber vielleicht noch eine Nachricht hinterlassen sollte?
Sie ging auf die Küche zu und sah zu ihrer Verärgerung, daß dort Licht brannte. Bestimmt Monsieur Marquet de la Durbellière, Ritter der traurigen Gestalt, eine heiße Kartoffel im Mund und eine Batterie an Scheinargumenten, um sie zurückzuhalten. Einen kurzen Moment erwog sie, umzukehren. Sie hatte nicht die Kraft, sein Gefasel zu ertragen. Andererseits, wollte sie die Nacht überleben, brauchte sie ihren Heizkörper.
9
Er saß am anderen Tischende und spielte mit dem Deckel seiner Bierflasche.
Camille umschloß fest den Türgriff und spürte, wie ihr die Fingernägel ins Fleisch schnitten.
»Ich habe auf dich gewartet«, sagte er.
»Ja?«
»Ja.«
»…«
»Willst du dich nicht setzen?«
»Nein.«
Einige Zeit verharrten sie so, schweigend.
»Du hast nicht zufällig den Schlüssel zur Hintertür gesehen?« fragte sie schließlich.
»In meiner Tasche.«
Sie seufzte.
»Gib ihn mir.«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Weil ich nicht will, daß du gehst. Ich verschwinde. Wenn du nicht mehr da bist, ist mir Philibert bis ans Ende seiner Tage böse. Vorhin schon, als er den Karton sah, hat er mir die Hölle heiß gemacht, er ist seitdem nicht mehr aus seinem Zimmer gekommen. Deshalb ziehe ich aus. Nicht deinetwegen, sondern seinetwegen. Das kann ich ihm nicht antun. Er wird wieder so werden wie vorher, und das will ich nicht. Das hat er nicht verdient. Er hat mir geholfen, als ich in der Scheiße steckte, und ich will ihm nicht weh tun. Ich will nicht mehr sehen, wie er jedesmal leidet und sich wie eine Schlange windet, wenn ihm jemand eine Frage stellt, das geht nicht. Es ging schon besser mit ihm, bevor du kamst, aber seit du da bist, ist er fast normal, und ich weiß, daß er jetzt weniger Pillen nimmt. Du brauchst nicht zu gehen. Ich hab einen Kumpel, bei dem ich nach den Feiertagen unterschlüpfen kann.«
Stille.
»Kann ich ein Bier von dir haben?«
»Nur zu.«
Camille schenkte sich ein Glas ein und setzte sich ihm gegenüber.
»Darf ich eine rauchen?«
»Nur zu, sag ich doch. Tu so, als sei ich nicht da.«
»Nein, das kann ich nicht. Das ist unmöglich. Wenn du in einem Raum bist, ist eine solche Spannung in der Luft, so viel Aggressivität, daß ich mich nicht natürlich verhalten kann und …«
»Was und?«
»Und mir geht’s wie dir, stell dir vor, ich bin müde. Nicht aus den gleichen Gründen, wie ich mir denken kann … ich arbeite weniger, aber sonst ist es das gleiche. Es ist was anderes, aber das gleiche. Mein Kopf ist müde, verstehst du? Außerdem will ich hier weg. Ich merke deutlich, daß ich nicht länger in einer Wohngemeinschaft leben kann, und ich …«
»Ja?«
»Nein, nichts. Ich bin müde, sage ich doch. Und du bist unfähig, dich anderen gegenüber normal zu verhalten. Immer mußt du brüllen, die anderen angreifen. Ich denke mir, das hängt mit deiner Arbeit zusammen, der Atmosphäre in der Küche, die abfärbt. Keine Ahnung. Und außerdem ist es mir ehrlich gesagt so was von egal. Aber eins ist sicher: Ich gebe euch eure Zweisamkeit zurück.«
»Nein, ich werd gehen, ich hab keine Wahl, sag ich doch. Für Philou zählst du mehr, du bist wichtiger geworden als ich.«
»C’est la vie«, fügte er lachend hinzu.
Und zum ersten Mal sahen sie sich in die Augen.
»Ich hab ihn besser bekocht als du, so viel ist sicher! Aber ich hab nun mal nichts am Hut mit den weißen Haaren der Marie-Antoinette. Das geht mir am Arsch vorbei, und deshalb hab ich verloren. Ach, übrigens! Danke für die Anlage.«
Camille war aufgestanden: »Es ist doch in etwa die gleiche, oder?«
»Bestimmt.«
»Prima«, folgerte sie freudlos. »Okay, und der Schlüssel?«
»Welcher Schlüssel?«
»Komm schon.«
»Deine Sachen sind wieder in deinem Zimmer, und ich hab dein Bett bezogen.«
»Du hast mein Bett bezogen? Hoffentlich nicht mein Zimmer.«
»Mann, du bist wirklich ätzend.«
Sie wollte gerade gehen, als er mit dem Kinn auf ihr Skizzenheft deutete:
»Hast du das gemacht?«
»Wo hast du das gefunden?«
»He … Ganz ruhig. Es lag hier auf dem Tisch. Ich hab nur reingeschaut, während ich auf dich gewartet hab.«
Sie wollte es sofort wieder an sich nehmen, als er hinzufügte:
»Wenn ich dir was Nettes sage, beißt du mich dann?«
»Probier’s halt mal.«
Er nahm es hoch, blätterte ein paar Seiten um, legte es wieder hin und wartete noch einen Moment, bis sie sich endlich umdrehte:
»Das ist toll, weißt du? Superklasse. Supergut gezeichnet. Das ist … Na ja, wenn ich das sage. Ich kenn mich ja nicht sonderlich gut aus. Überhaupt nicht, eigentlich. Aber ich wart seit fast zwei Stunden auf dich, in dieser Küche, wo man sich einen abfriert, und die Zeit ist nur so verflogen. Ich hab mich nicht eine Minute gelangweilt. Ich … Ich hab mir hier die ganzen Gesichter angeschaut. Meinen Philou und seine Leute. Wie gut du sie getroffen hast, wie schön du sie gemacht hast. Und die Wohnung. Ich wohn seit über einem Jahr hier und hatte gedacht, sie wäre leer, das heißt, ich hab nichts mitgekriegt. Und du … Tja, das ist echt Wahnsinn.«
»…«
»He, warum heulst du jetzt?«
»Die Nerven, glaube ich.«
»Na, so was. Willst du noch ein Bier?«
»Nein, danke. Ich gehe jetzt schlafen.«
Als sie im Badezimmer war, hörte sie, wie er an Philiberts Zimmertür hämmerte und brüllte:
»Okay, Kumpel! Alles in Ordnung. Sie ist nicht ausgeflogen! Du kannst jetzt pissen gehen!«
Als sie das Licht ausmachte, glaubte sie zu erkennen, wie ihr der Marquis zwischen seinen Barthaaren zulächelte. Sie schlief sofort ein.